Donnerstag, 20. August 2009

10 Tage und 11 Nächte

Wenn du da oben im 7. Stock des Hospitals La Raza deine 24-Stunden-Schicht absitzt und eigentlich nicht viel mehr zu tun hast, als anwesend zu sein, da dein kleiner Junge mit 4 Binden an sein Bettchen gefesselt ist, dann gehen dir eine Menge Dinge durch den Kopf. Dinge, über die du schreiben könntest. Mehr für dich selbst, damit du dich in Zukunft etwas genauer erinnern kannst, als für andere.
Wenn du dann das Hospital verlassen hast und in deine übliche Routine zurück gespült wirst, stellst du sofort fest, dass du es auf gar keinen Fall schaffst, all das niederzuschreiben, was dich da oben beschäftigt hat.

Vielschichtige Dinge sind es, denen deine Gedanken nachhingen. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Eintönigkeit des Krankenhausalltags.

Da ist zum Beispiel der romantisch-nostalgische Teil, den es tatsächlich gab. Von der siebten Etage des Hospitals aus hast du einen tollen Blick auf Downtown Mexico City, die eigentlich gar nicht so beeindruckende skyline. Aber wenn du dich allein und fremd in der riesigen, anonymen Stadt fühlst und zuschauen kannst, wie sich die Nacht auf den Moloch senkt - gerade noch auszumachen durch das verdreckte Fensterglas und den alles beherrschenden Smog - dann kommt eine ganz einzigartige Stimmung in dir auf. Das blinkende Licht am Schwanz des letzten Flugapparates verschwindet im Schwarz des nächtlichen Himmels, zu deinen Füßen kannst du beobachten, wie sich der Stau in der S-Kurve des Circuito Interior gegen Mitternacht endlich auflöst, die Wolkenkratzer stehen als dunkle und bedrohlich wirkende Giganten da, weil sie wegen vollkommen fehlender Beleuchtung nur schattenhaft zu erkennen sind. Im Zimmer, in dem du dich befindest, sind längst alle Lichter gelöscht. Aber du weißt, dass du nicht schlafen können wirst. Also beobachtest du weiter. So lange, bis die Nacht ihren Dienst beendet und der neue Tag erwacht. Was wird er mit sich bringen, dieser neue Tag?

Sonnenuntergang Mexiko, Aguascalientes


Da ist der kalte, unmenschliche Teil, der ein ganzes Buch füllen würde, wäre man gewillt, detailliert auf ihn einzugehen. Wenn auch teilweise notwendig und verständlich, führt das Trio übertriebene Reglementierung - physischer Zustand des Hospitals - Einstellung vieler Mitarbeiter des staatlichen Gesundheitssystems IMSS dazu, dass sich der Patient und dessen Angehörige oftmals unwürdige und erniedrigend behandelt fühlen. Während man sich z. Bsp. in der Mexiko-Community gerade darüber unterhält, wie viele Toiletten ein Haus braucht oder nicht braucht, gibt es für dich als Angehörigen (offiziell) nur eine Möglichkeit, falls du im "La Raza" einmal dieses Zimmers bedürftig bist: Sieben Etagen mit dem Fahrstuhl, der ewig braucht, bis er kommt, nach unten zu fahren ... beim Sicherheitspersonal deinen Hospitalpass gegen deinen eigenen einzutauschen und zur einzigen öffentlichen Toilette zu marschieren. Mit gerade einmal zwei Kabinen für das große Geschäft, in Farben gehalten, gegen die das, was du da ausscheidest, paradiesisch wirkt und immer schmutzig, obwohl zweimal pro Tag gereinigt wird. Außer dem Wasser zum Spülen musst du alles selbst mitbringen. Papier für hinten, Papier für die Hände. Und wohl dem, der eine aufblasbare Toilettenbrille mit sich herumschleppt. Aber dies soll letztendlich doch kein Buch werden, also widmest du dich anderen Dingen.

Wie etwa dem gastronomischen Teil. Wasser, Kaffee und Zigaretten reichen nicht ganz aus, um 10 Tage halbwegs gesund zu überstehen. Glücklicherweise hat das Hospital zwei Cafeterias, von denen eine ein richtiges kleines Restaurant ist. 3 Uhr morgens ist eine herrliche Zeit, um die Hauptmahlzeit des Tages in aller Ruhe einzunehmen.

Es wäre darüber zu reden, wie Fremde Fremde bleiben an solch einem Ort. Wenn die "Schichten" halbwegs zusammen passen, dann verbringst du innerhalb dieser 10 Tage mit einigen Leuten mehr Zeit zusammen, als du es jemals mit jemand anderem getan hast. Da lernt man sich kennen. Und wenn es Abschied nehmen heißt, ist ein kurzes Winken alles, was bleibt. Vielleicht liegt das daran, dass es nur wenige Orte gibt, von denen man sich lieber verabschieden würde. Und andere Personen sind irgendwie ein Teil dieses Ortes.
Auch wäre darüber zu reden, wie Freunde Freunde bleiben und manchmal neue hinzukommen. Leute, die in dieser monströsen Stadt unwahrscheinliche Wege auf sich nehmen, um kurz mit dir zusammen zu sein.
Touristisches wäre zu bemerken, wie etwa die Unterkunft. Jemand hat dir den Gefallen getan, vorab ein wenig die Gegend zu erkunden. Wahrscheinlich mehr zu erkunden, als du selbst in 10 Tagen zu sehen schaffst. Ein Stundenhotel ist die Lösung. Eine hervorragende Lösung, und das nicht wegen des unvermeidlichen Pornokanals. Kleiderschrank? Tisch? Stuhl? Brauchst du nicht. Ein prima Bett und eine tolle Dusche ist das, was dir als notwendig vorschwebt. Und beides ist vorhanden. Einen kürzeren Weg zu deinem Krankenhauseingang gibt es nicht.

Und über vieles, vieles mehr könntest du berichten, aber für wen eigentlich? Denn nicht einmal dich selbst wird das in Zukunft interessieren.

Aber über eine Sache, über die muss gesprochen werden. Über eine exzellente medizinische Behandlung. Was einen weiteren Artikel erforderlich macht ...

 
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